Als der König eines Morgens in ihr Gemach trat, erschrak er beinahe zu Tode. Seine über alles geliebte Tochter, die Thronfolgerin, war verschwunden. Er brüllte, dass sich die Statik des gesamten Königshauses einer harten Prüfung unterziehen musste — doch niemand wusste, wo sich die Königstochter befand.
Am Abend zuvor.
Sie beschloss, dass sie hier niemals würde ihre Antworten finden. Niemals würde ihrer Sehnsucht Genüge getan werden, solange sie als die Königstochter dieses Leben lebte. Alles fühlte sich schwer an. Dabei besaß sie alles, was man sich vorstellen kann, und auch das, was man sich nicht mehr ausmalen kann. Ihr Vater war nicht nur ein geschickter Verhandler, er war ein guter Räuber, der viele Feldzüge führte und seinem Königreich dadurch unermesslichen Reichtum schenkte. Er verstand es, sein Volk so zu führen, dass sich niemand beschwerte, es allen gut ging. Aber auch nicht zu gut, denn dann würden seine Untertanen träge werden.
Der König verstand dies als große Herrscherkunst, die er seiner Tochter, sie war nun längst kein Mädchen mehr, beibringen wollte. Die Magd war wichtigste Vertraute der Königstochter. Sie teilte ihr gesamtes Leben mit ihr. Als sie noch sehr klein war, passte die Magd auf die sie auf. Ihre ersten Worte schenkte sie der Magd genauso, wie sie ihr ihre ersten Schritte vorführte. Niemand kannte die Königstochter besser als ihre Magd. Also beschloss sie, sie in ihre Pläne einzuweihen. Denn um ungesehen aus dem Schloss zu kommen, brauchte sie eine Komplizin. Die Wachen würden ihrem Vater, dem König, sofort Alarm melden. Sie war zwar kein Kind mehr im klassischen Sinne, doch über die Burgmauern hinaus, durfte sich die Königstochter nie ohne Begleitung bewegen.
In den Wochen vor ihrem Weggang sammelte sie alles Notwendige: einen Dolch, den sie zur Not würde einsetzen, Kleidung, Nahrung und ein Buch, das sie durch die Einsamkeit würde tragen. Denn die Königstochter wusste: Vermutlich würde es eine lange Reise sein, ohne sichere Wiederkehr. Als sie schließlich die Magd damit konfrontierte, dass sie plane, das Schloss zu verlassen und auf die Suche nach ihren Antworten zu gehen, fiel diese in einen Gewissenskonflikt. Sie liebte die Königstochter wie ihr eigenes Kind, und doch war sie über die Pläne nicht begeistert und musste ihren Dienstherren, dem sie loyal über die letzten dreißig Jahre gedient hatte, in Kenntnis setzen. Doch dann würde sie das Vertrauen der Königstochter für immer verlieren. Was sollte sie nur tun? Sie entschied sich, ihrem Herzen zu folgen. Denn tief in sich, verstand sie die Königstochter.
Sie selbst spürte schon lange eine Leere im Inneren, die niemals gestillt werden konnte. Nicht durch ihre Arbeit, ihre Ehe und schon gar nicht durch den Priester am Sonntag.
Also würde sie der Königstochter helfen, heimlich das Schloss zu verlassen.
»Ihr müsst euch schrecklich beeilen. Hier sind die Kleider, die ich für euch aus der Kammer besorgt habe. Damit seht Ihr aus wie eine von uns, den Bediensteten. Doch gebt acht und blickt niemals jemanden direkt ins Gesicht. Wenn ihr gefragt werdet, wer ihr seid, so antwortet ihr, ihr seid meine persönliche Assistentin«, führte die Magd aus.
»Ihr seid meine größte Hoffnung und ich werde Eure Tat niemals vergessen. Schon bald werdet Ihr etwas von mir hören – machet Euch keine Gedanken, für Euch wird immer gesorgt sein. Dafür habe ich gesorgt. Ihr werdet mir fehlen. Ohne Euch wäre ich verloren gewesen!«. Tränen schossen der Königstochter in die Augen, wenn sie daran dachte, die einzige Person, die ihr wirklich etwas bedeutete und bei der sie wusste, es ist umgekehrt genauso, verlassen zu müssen. Sie liebte die Magd wie eine Mutter, seitdem ihre leibliche Mutter an dieser schrecklichen Krankheit gestorben war, die nicht einmal all der Reichtum ihres Vaters aufhalten konnte.
Die Königstochter schlüpfte in die Kleider einer Bediensteten, verstaute einen Teil ihres Hab und Gutes umständlich unter ihrem Rock, und die Magd hatte dafür gesorgt, dass ein großer Beutel mit dem Rest unter einem Baum unweit des Schlosses auf sie wartete. Alles ging gut. Die Königstochter schaffte es, unbemerkt aus dem Schloss zu entkommen. Ein heikler Moment bei den Wachen, die die Burgmauer bewachten, aber beim Anblick des mit Kohle verschmierten Gesichts, wäre niemand auch nur auf die Idee gekommen, dass es sich um die Königstochter handelt. Ein Fehler, der sie später den Zorn des Königs kosten würde.
Die Königstochter schlich davon. Zu Fuß, im Kleid einer Bediensteten, mit einem großen Beutel, in dem sich nun alles befand, was ihr Leben war. Und seltsamerweise machte sie dies leicht und unbeschwert. Sie hatte erwartet, dass das Loslassen all ihrer Sachen ihr schwerer fallen würde. Doch nun merkte sie, wie leicht es sich leben kann, wenn man nicht zu viele Dinge besitzt. Ihre ganzen Sachen im Königshaus waren wie ein Käfig, der sie in einem Leben einsperrte, für das sie nicht bestimmt war.
Einige Zeit später
Sie war müde vom Laufen. Als sie endlich die Grenzen des Königreiches passierte, musste sie nicht mehr so stark aufpassen, entdeckt zu werden. Ihr Vater, der König, hatte seine besten Männer losgeschickt, um nach ihr zu suchen. Zum Glück war sie schon als kleines Mädchen immer bei den Übungen und Ausbildungen der Soldaten des Königs dabei und wusste genau, wie sie ticken. Sie wusste, welche Routen sie wählen würden, wen sie nach ihr fragen und welche Schritte sie danach ausführen würden. Sie hatte es geschafft und verließ unbemerkt das Königreich.
Kurz darauf, ihre Vorräte waren beinahe erschöpft und sie litt zum ersten Mal in ihrem Leben schrecklichen Hunger, machte sie Bekanntschaft mit einem Wirt, der sie erst für eine Bettlerin hielt und ihr dann Arbeit in der Küche anbot. Sie schuftete unendliche Stunden jeden Tag, doch im Gasthaus erhielt sie dafür nicht nur ein Bett, sondern auch einen Lohn, den sie ansparte, um schon bald wieder auf Reisen zu gehen.
Eines Abends, es war schon kurz vor Thekenschluss, kam ein merkwürdig gekleideter Fremder in die Gaststube. Der Wirt wollte ihm schon zurufen, dass das Gasthaus für heute geschlossen ist. Doch als sie ihn durch die Luke, die in die Küche führte, sah, spürte die Königstochter, dass mit diesem Fremden etwas ist, was sie herausfinden muss. Also rief sie dem Wirt zu, dass sie sich um den Gast kümmern könne und er nach Hause zu seiner Familie könne. Der Wirt schaute sie mit hochgezogener Augenbraue an, warf sein Tuch in die Spüle und verschwand.
»Was wollt Ihr zu trinken, Fremder?«, fragte die Königstochter den Fremden. »Ein Bier, und habt ihr noch etwas Essbares in dieser Spelunke?«, sagte der Fremde. »Die Küche ist bereits geschlossen, aber ich kann Euch eine Brotzeit anrichten, wenn Ihr wünscht«, bot die Königstochter an. »Das klingt, als wäre es die erste gute Information des heutigen Tages…«, entgegnete der Fremde.
Die Königstochter zapfte das Bier und bereitete die Brotzeit zu. Der geheimnisvolle Fremde war von stattlicher Statur. Er war etwas älter als die Königstochter, trug einen komplett schwarzen Umhang, was sie etwas beunruhigte, denn sie sah deutlich den großen Dolch darunter, als sie ihm das Essen brachte. Der Fremde erkannte den Blick der Königstochter und sagte: »Ihr müsst Euch keine Sorgen machen. Ich werde mein Essen ordentlich bezahlen und diesen Dolch setze ich nur für Menschen der Torheit ein, die meinen, sie müssten mich ausrauben!«.
Die beiden kamen ins Gespräch. Die Königstochter wollte wissen, woher er stammte und was er in dieser abgelegenen Gegend suche. Letzteres wollte der Fremde nicht preisgeben, aber er verriet ihr, dass er aus einem benachbarten Königreich kam, mit dem ihr Vater in der Vergangenheit erbitternde Kämpfe um ein sehr lohnenswertes Flussgebiet geführt hatte.
Als die Sprache auf sie kam, erzählte sie dieselbe Geschichte, die sie jedem erzählte: Ihre Mutter sei früh verstorben, der Vater nur mit sich selbst beschäftigt und sie schlug sich durch, so gut es eben ging.
»Ihr könnt sehr vielen Leuten etwas vormachen, doch die Wasser, mit denen ich gewaschen bin, sind tief. Ich erkenne ein Mädchen von Adel, wenn ich es vor mir habe. Ihr mögt vielleicht den Wirt und andere Minderbelichtete überzeugen, aber nicht mich«. Der Fremde sagte dies mit absoluter Überzeugung und in ebensolcher Ruhe. Die Königstochter hingegen war alles andere als beruhigt. Und ehe sie etwas erwidern konnte, führte der Fremde fort: »Außerdem weiß man im Umkreis von drei Königreichen, dass einem König die Königstochter abhanden gekommen ist. Wenn ich mir Eure Hände ansehe, so sehe ich nicht die üblichen Schrunden der Klasse, in der Ihr Euch gerade befindet. Außerdem ist Euer Ausdruck zu gut, Eure Worte sind zu gewählt und Euer Gesicht ist zu schön, um zum Pöbel zu gehören. Entweder der Wirt ist ein Tunkelbold, ein Idiot oder beides – jedenfalls tut ihr gut daran, Euch in der Küche zu verstecken«.
Die Königstochter wurde kreidebleich. Sie wusste, dass es keinen Sinn machte, zu versuchen, den Fremden zu belügen. Zitternd überlegte sie, wie viel Geld sie auf die Schnelle herbeiführen könnte, um es dem Fremden für sein Schweigen anzubieten. Danach würde sie fliehen müssen, in dieser Gegend war sie nicht mehr sicher. Doch der Fremde würde sich sicher nicht mit dem wenigen Ersparten zufrieden geben, welches sie ihm bieten konnte, wenn er ein Vielfaches davon als Belohnung von ihrem Vater erwarten durfte.
Der Fremde sah der Königstochter beim Denken zu und war amüsiert. Offenbar hatte er genau ins Schwarze getroffen.
»Ich werde Euch nicht verraten und die üppige Belohnung Eures Vaters interessiert mich nicht. Niemand wird von mir etwas erfahren, doch solltet ihr besser auf der Hut sein. Euer Vater lässt nichts unversucht, Euch zu finden. Und seine Mannen sind nicht so weit entfernt, wie ihr denkt. Aber nun sagt mir, was führte Euch dazu, das Leben einer Königstochter mit dem Leben einer Küchenhilfe des Pöbels zu tauschen?«, sagte der Fremde.
Die Königstochter war noch immer sprachlos. Aber sie war auch erleichtert. Sie wusste nicht wieso, doch traute sie dem Fremden. Sie hatte nicht den Eindruck, dass er sie verraten würde oder ein Spiel mit ihr spielte. Irgendwas in ihr sagte ihr, sie könne ihm trauen.
»Nun, ich…«, fing die Königstochter an, unterbrach aber jeden Satz gleich wieder. »Ich wollte einfach wissen, was das Leben wirklich ist. Mein Kopf hatte alles, was Ihr Euch erträumen könnt. Ein ganzes Königreich…« — »eines der reichsten Königreiche dieser Zeit«, unterbrach sie der Fremde. »Ganz recht, eines der reichsten Königshäuser, aber in meinem Herzen ist nur Leere. Ich spüre schon lange, dass ich für dieses Leben nicht gemacht bin. Und ich kann es nicht erklären, aber ich wusste, dass ich fortgehen musste und mein Vater mich niemals würde gehen lassen. Für ihn steht alles bereits in seinen Büchern: Er würde aus mir eine Königin machen und so lange mitmischen, bis er sterben würde. Doch das ist nicht, was ich will!«, sagte die Königstochter energisch.
Der Fremde trank einige Schlucke aus seinem Bier, aß die Brotzeit zu Ende und musterte die Königstochter. Diese sah ihn etwas verschämt an – sie musste lange auf seine Antwort warten.
»Nun, ich glaube, ich kenne jemanden, der dir helfen kann. Euer Gefühl in der Brust ist ganz richtig. Es war sehr mutig von Euch, ihm zu folgen. Die meisten Menschen folgen ihm niemals und sterben als Unwissende. Seid bereit, morgen früh im Morgengrauen werde ich wieder hier sein und Euch zu ihm führen, wenn Ihr das wünscht«.
Der Fremde erhob sich, zahlte sein Essen mit einem großzügigen Trinkgeld, nickte der Königstochter zu und verließ die Gastwirtschaft. Sie blickte ihm nach und wusste nicht wirklich, was sie tun solle. Der Wirt war nett zu ihr, doch hatte der Fremde recht: Wenn er sie erkannte, dann vermutlich irgendwer anders auch. Es war eine Frage der Zeit. Also musste sie sowieso aufbrechen und dann konnte sie dem Fremden auch zu diesem ominösen Jemand folgen, von dem er sprach…
Der ominöse Jemand – eine Unterredung, die die Königstochter niemals vergessen wird. Nächste Woche auf www.maharaya.org
FIN
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